30. Dezember 2025

Sinnestanz Synästhesie

Der Mittwoch schmeckt zartbitter

Lesezeit: 4 Min.

von Sabine Fuchs

Hast Du schon einmal einen Dienstag geküsst? Oder zumindest seinen Geschmack auf der Zunge gespürt – frisch, klar, ein bisschen pfefferminzig? Nein? Dann gehörst Du vermutlich nicht zu den etwa vier Prozent der Synästhetiker. Nämlich der Menschen, deren Sinne das Leben ein klein wenig anders orchestrieren: vernetzter, bunter, multisensorisch.

Synästhesie ist eine neurokognitive Variante der Wahrnehmung. Das Gehirn verknüpft Reize auf ungewöhnliche, aber stabile Weise. Keine „Fehlverschaltung“, sondern vielmehr ein Ausdruck der beeindruckenden Plastizität unseres Denkorgans. Farben hören, Geräusche schmecken, Zahlen fühlen – Synästhesie ermöglicht eine multisensorische Wahrnehmung, bei der die Grenzen der klassischen Sinnesorgane aufgelöst werden. Etwa vier bis fünf Prozent der Menschen erleben ihre Umwelt synästhetisch. Während die meisten von uns Wörter lesen, hören oder sprechen, erleben Synästhetiker Sprache ganzheitlich. Ein Satz ist kein bloßes Geräusch – sondern ein flirrendes Farbspiel. Ein Name, kein neutraler Code, sondern ein Aromenbouquet. Diese Verknüpfungen sind stabil, persönlich und nicht bewusst steuerbar. Für echte Synästhetiker ist das „B“ eben beispielsweise immer indigoblau – nicht aus künstlerischer Freiheit, sondern weil Sinneseindrücke sie nur in dieser Form erreichen.

In kreativen Berufen ist diese Fähigkeit besonders wertvoll: Der russisch-französische Maler Wassily Kandinsky „hörte“ Farben und setzte Musik in leuchtende Gemälde um. Wladimir Nabokov beschrieb Buchstaben mit exakten Farbcodes. Musiker wie Pharrell Williams sehen ihre Songs als farbige Kompositionen. Studien zeigen, dass Frauen signifikant häufiger synästhetisch veranlagt sind als Männer – etwa im Verhältnis drei zu eins. Warum das so ist, bleibt unklar. Vermutet wird eine Kombination aus genetischen, hormonellen und neurobiologischen Faktoren. Auch kulturelle Einflüsse spielen möglicherweise eine Rolle. Zugleich ist Synästhesie individuell: Was für die eine Person wie ein zartes Farbenspiel ist, kann für eine andere ein regelrechtes sensorisches Feuerwerk bedeuten. Manche Betroffene bemerken ihre Synästhesie lange nicht – weil es für sie eben ganz normal ist, dass Mittwoch grün ist und das Wort „Liebe“ wie Erdbeereis schmeckt.

Wenn Sinne sich kreuzen

Grundsätzlich unterscheidet man zwischen sensorischer Synästhesie, bei der ein Sinneseindruck (z. B. ein Ton) direkt einen weiteren (z. B. eine Farbe) auslöst, und kognitiver Synästhesie, bei der abstrakte Konzepte wie Zahlen oder Wörter in Sinneseindrücke umgewandelt werden. Wissenschaftlich sind mittlerweile über 60 verschiedene Synästhesieformen dokumentiert. Zu den häufigsten zählen:

  • Graphem-Farb-Synästhesie: Buchstaben oder Zahlen erscheinen farbig. (Das „A“ ist vielleicht immer rot, die „5“ türkis.)
  • Tonal-visuelle Synästhesie: Klänge oder Musik rufen visuelle Eindrücke hervor: Farbschlieren, Lichtblitze oder sich bewegende Muster.
  • Lexikalisch-gustatorische Synästhesie: Wörter lösen Geschmackswahrnehmungen aus. Der Name „Claudia“ schmeckt zum Beispiel nach Vanillepudding.
  • Personalisierte Sequenzsynästhesie: Abstrakte Konzepte wie Wochentage, Monate oder Zahlenreihen haben für Betroffene Charaktereigenschaften, Alter oder sogar ein „Familienleben“.
  • Emotionale Synästhesie: Starke Gefühle wie Trauer oder Freude werden als Farbe, Ton oder Duft erlebt. Diese Form ist wissenschaftlich besonders schwer zu erfassen, da Gefühle nicht wie Töne oder Buchstaben reproduzierbar sind.

Kein Hokuspokus, sondern Lebensrealität

Synästhesie ist nicht in übersprudelnder Fantasie begründet, sie ist real und neurologisch messbar. Bildgebende Verfahren wie fMRT zeigen, dass bei synästhetischen Reizen tatsächlich mehrere Sinnesareale gleichzeitig aktiv sind.

Der Zauber im Alltäglichen

Auch wenn nur ein kleiner Teil der Bevölkerung echte Synästhesie erlebt – die Idee, dass unsere Sinne nicht isoliert funktionieren, ist universell. Viele Menschen kennen „synästhesieartige“ Phänomene: Ein Parfum „riecht“ nach einer Farbe. Eine Stimme wirkt „samtig“. Musik kann sich „scharf“ oder „weich“ anfühlen. Assoziationen, die sich nicht zuletzt die Werbeindustrie erfolgreich zunutze macht: Nach welchem Tetra-Pack würdest du greifen, wenn du Fruchtsaft trinken möchtest? Nach dem gelben oder dem blauen? Gerade weil wir von Zahlen, Daten und Logik geprägt sind, erinnert uns Synästhesie an etwas ganz anderes: an die Schönheit subjektiver Wahrnehmung. An die Poesie des Denkens. An das Staunen über das, was wir mit unseren Sinnen erfahren. Und auch wenn wir „Normalfühlenden“ vielleicht kein Orchester bei jedem Vokal hören – wer kennt nicht diesen Moment, in dem ein bestimmter Duft eine Kindheitserinnerung wachruft? Oder ein Lied sich nicht nur in den Ohren, sondern auch im Herzen festsetzt? Vielleicht ist das ein Zeichen dafür, wie sehr Sinneseindrücke ohnehin miteinander verschmelzen: nur meist unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle. Synästhetiker hingegen erleben diese Überschneidungen ganz real – wie einen ständigen inneren Tanz der Sinne. Wer beginnt, in Farben zu denken, in Klängen zu fühlen oder in Düften zu träumen, wird das Leben nie wieder ganz nüchtern betrachten. Und das ist – im besten Sinne – ein Gewinn.

Definition:

Synästhesie (von altgriechisch syn = zusammen und aisthesis = Wahrnehmung) bezeichnet eine neurologische Besonderheit, bei der die Aktivierung eines Sinnesreizes automatisch und unwillkürlich eine zusätzliche Wahrnehmung in einem anderen Sinn hervorruft. Statt Reize getrennt nach „sehen”, „hören”, „fühlen”, „riechen” oder „schmecken” zu sortieren, verschmelzen synästhetische Gehirne Sinneseindrücke miteinander. Eine Zahl hat dann eine Farbe. Ein Ton hat eine Form. Ein Wochentag besitzt ein Geschlecht oder einen Charakter.

Headerbild: grandfailure-stock.adobe.com
Erschienen in „#Oberpfälzerin“, Herbst/Winter-Ausgabe 2025
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